Gleichsam das Gegenstück zum Königsstuhl stellt die kleine, am anderen Rheinufer gelegene Liebfrauenkapelle unweit des historischen Stadtkerns von Oberlahnstein dar. Wie jener zerstört und an anderer Stelle verändert und (zum Teil) neu errichtet, erinnert sie heute als Denkmal an die Absetzung König Wenzels am 20. August 1400, dessen Namen ihr der Volksmund seit den 1840er Jahren gegeben hat.
Am Ende des Hoch- und in den ersten Jahrzehnten des Spätmittelalters lag Oberlahnstein als nördliche Exklave des Erzstifts Mainz völlig isoliert und war von Eigentum dreier anderer Reichsfürsten umgeben: Nördlich lagen auf der rechten Lahnseite die Ortschaft Niederlahnstein und auf der linken Rheinseite die Ortschaft Kapellen mit Burg Stolzenfels (sämtlich Erzstift Trier), während sich südlich rechtsrheinisch Braubach mit der gleichnamigen, heute „Marksburg“ genannten Burg (rheinische Pfalzgrafschaft) und linksrheinisch Rhens (Erzstift Köln) anschlossen.
Dass vier der wichtigsten Reichsfürsten und späteren Kurfürsten in diesem kleinen Gebiet am Mittelrhein eigene Liegenschaften zur Verfügung standen, sollte Grund und Voraussetzung dafür sein, dass sich seit 1273 Fürstentreffen zu verschiedensten Fragen von Territorial- und Reichspolitik in und bei Oberlahnstein und Rhens nachweisen lassen und hier im 14./15. Jahrhundert zwei Ereignisse von reichsweitem Belang stattfanden: Nach dem Tod Kaiser Ludwigs IV. im Jahr 1347 trafen sich am 10. Januar 1348 die Bevollmächtigten und Geheimschreiber Markgraf Ludwigs I. von Brandenburg, des rheinischen Pfalzgrafen Ruprecht I., Herzog Erichs II. von Sachsen-Lauenburg und des vom Papst abgesetzten Erzbischofs Heinrich III. von Mainz „unterhalb der Burg Lahnstein“ (gemeint ist die heute fälschlicherweise als „Martinsburg“ bezeichnete Burganlage im Stadtteil Oberlahnstein), um König Eduard III. von England (1327-1377) zum neuen römisch-deutschen König zu wählen. Zwar scheint es, dass Eduard durchaus geneigt war, die Wahl anzunehmen, doch sagte er schließlich wegen der wieder aufflammenden Kämpfe mit Frankreich seine Bereitschaft zur Annahme von Titel und Amt am 10. Mai 1348 ab. Gut fünf Jahrzehnte später später wurde an derselben Stelle am 20. August 1400 König Wenzel wegen angeblicher Faulheit und Unfähigkeit von den vier rheinischen Kurfürsten abgesetzt und am Folgetag auf dem inzwischen auf Veranlassung Kaiser Karls IV. nach 1376 errichteten Königsstuhl bei Rhens Pfalzgraf Ruprecht III. zum neuen römisch-deutschen Herrscher gewählt.
Während die gescheiterte Königserhebung Eduards III. von England erstaunlicherweise keinerlei Nachhall hervorgerufen hat, konnte sich die spektakuläre Amtsentsetzung König Wenzels bis heute im kollektiven Bewusstsein der umgebenden Bevölkerung fest verankern. Dies ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Absetzung eines Herrschers nicht durch die reichsrechtlichen Bestimmungen der Goldenen Bulle von 1356 zu rechtfertigen war und damit einem revolutionären Staatsstreich gleichkam. Ungeachtet dessen oder vielleicht gerade deshalb vereinnahmten die nationalistisch gestimmte Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und vor allem der Volksmund die Episode um Wenzel für sich und konstruierten die Legende vom angeblich faulen und unfähigen König, der zu Recht seines Amtes enthoben wurde. Und auch die genaue Örtlichkeit war schnell gefunden: Eine kleine, eher unscheinbare Liebfrauenkapelle unweit südlich der Stadt Oberlahnstein sollte Ort des dramatischen Geschehens gewesen sein, weshalb sie den neuen, erstmals 1844 nachweisbaren Namen „Wenzelkapelle“ erhielt.
Aber trägt die „Wenzelkapelle“ ihren heutigen Namen zu Recht? Tatsächlich verweisen die relevanten Schriftquellen deutlich darauf, dass die Absetzung König Wenzels „am Rhein bei Oberlahnstein in Richtung Braubach auf einem zum Richterstuhl erhobenen Stuhl“ und „außerhalb der Tore der Stadt (Ober-)Lahnstein nahe dem Rhein in Anwesenheit einer großen Volksmenge“ geschah. Von einer Kapelle ist bezeichnenderweise an keiner Stelle zu lesen. Nimmt man hinzu, dass die erste Erwähnung des Sakralbaus erst mehr als sechs Jahrzehnte später erfolgt und auch der Baubefund keine eindeutige Zuweisung in die Zeit vor 1400 rechtfertigt, so ist ihre Existenz bereits zu dieser Zeit nicht gerechtfertigt anzunehmen. Auch bleibt zu berücksichtigen, dass der absichtlich auf einem – wohl hölzernen – Richterstuhl abgehaltene und damit für die anwesende Bevölkerung einsehbare Akt der Thronentsetzung einer Kapelle nicht unbedingt bedurfte.
Erstmals gesichert nachgewiesen ist eine „Kapelle Unserer Lieben Frau am gehauenen Weg“ im Jahr 1467. Auf Grund des Marienpatroziniums über ihren Altar wurde sie von Beginn an auch als „Kapelle der seligen Jungfrau Maria“ oder schlicht als „Marienkapelle“ betitelt und dazu selten mit dem Zusatz „auf der Straße“ oder „auf den Feldern“ versehen. Das Patronatsrecht – also vor allem das Recht zur Einsetzung der Pfarrer – fiel zunächst den Grafen von Nassau zu, bevor es Eberhard Vetzer von Gabsheim 1505 übernahm. 1489 wurde die bis dahin bestehende, stets am Sonnabend gehaltene Wochenmesse um eine weitere Messe am Mittwoch vermehrt – eine Regelung, die noch 1752 der damalige Oberlahnsteiner Pfarrer bestätigte. Über die Geschicke der Kapelle vom 16. bis zum 18. Jahrhundert liegen ansonsten nur wenige und kaum weiterführende Schriftquellen vor. Im 19. Jahrhundert vernachlässigt, musste das kleine Gebäude nach mehrjährigen Diskussionen schließlich im Jahr 1903 einer Erweiterung der Gleisanlagen des Güterbahnhofs Oberlahnstein weichen; der kleine Hügel, auf dem es gestanden hatte, wurde abgetragen, der vorbeiführende Weg beseitigt.
Der vor dem Abriss beschlossene Neuaufbau des Kapellenchores mit einer westlich davorgesetzten neuen „Vorhalle“ unter Auslassung des Langhauses verzögerte sich wegen finanzieller Probleme und der Weigerung der Stadt Oberlahnstein, für den weiteren Unterhalt von Baugrund und Kapelle irgendwelche Kosten tragen zu wollen, um volle zwei Jahre. Erst nach Einwerbung weiterer Zuschüsse und Neuregelung der Rahmenbedingungen konnte das Vorhaben am Ende des Jahres 1905 schließlich doch noch durchgeführt werden. Auf dem durch die Firma Victoria-Brunnen Oberlahnstein kostenfrei zur Verfügung gestellten Bauplatz wurde aus dem Abbruchmaterial des alten Langhauses ein kleiner Hügel errichtet, der seitdem den etwas seltsam, da wie ein Torso anmutenden Neubau trägt. Heute verbirgt sich die einst frei im Gelände stehende „Kapelle“ zwischen den Gebäuden des 2016 begonnenen Wohn- und Gewerbegebietes „Rheinquartier“ und dem unmittelbar am Rhein liegenden Betriebsgelände der „Victoria Heil- und Mineralbrunnen GmbH“.
Die ursprüngliche Kapelle bestand aus einem quadratischen Langhaus mit östlich vorgesetztem Chorbereich, die sich baulich und stilistisch deutlich voneinander unterschieden. Ob sich auf der Westseite noch eine Art „Vorhalle“ befand, wie angenommen worden ist, muss stark bezweifelt werden. Den komplett verputzten Gesamtbau überragte ein hoch aufragendes, zum Chor hin zwar auf dessen Länge und Breite, nicht aber in der Höhe zurückweichendes Schieferdach.
Bedeutendster Bauteil war der dem Langhaus auf der Ostseite nicht ganz mittig vorgesetzte Chor mit einer maximalen Länge von knapp fünf Metern, in dem sich der kleine Altar befand. Über zwei jeweils drei Meter breite Längswände endete der Chorbereich mit einem 3/8 Schluss, der durch drei gleichförmig angeordnete hohe Fenster mit Spitzbogen und Maßwerk eine ansprechende Gliederung aufwies – auf der Außenseite aufgenommen und unterstützt durch vier gleichfalls regelmäßig zwischen die Fensteröffnungen gesetzte Stützpfeiler. Durchbrochen wurde die strenge Symmetrie des Chores nach außen und innen lediglich durch die unterschiedliche Gestaltung der Chorlängswände: Während die südliche ein weiteres, mit den anderen drei identisches Fenster aufnahm, zeigte die nördliche keinerlei Öffnung, dafür jedoch auf der Außenseite einen fünften Stützpfeiler.
Davon hebt sich das wohl mit einer kleinen Empore ausgestattete Langhaus deutlich ab. Über einem quadratischen Grundriss mit einer Seitenlänge von acht Metern errichtet, zeigte sich in Nord- und Südmauer jeweils ein mittig platziertes, mit einem schlichten Rundbogen gefasstes Fenster. Nach Osten hin öffnete sich der Raum mit einer Breite von knapp drei Metern zum Chorbereich, in der giebelartig erhöhten Westwand ermöglichte ein zwischen zwei Fenstern identischer Größe platziertes schmales Eingangsportal den Zugang zum Kapelleninneren. Dem hohen Dach saß etwa in der Mitte ein schlankes, verschiefertes Türmchen mit eigenem Spitzdach auf, in dem sich die Glocke befand.
Über die Datierung der Gebäudeteile können keinerlei verlässliche Angaben gemacht werden. Wie die deutliche Baufuge zwischen Chor und Langhaus immerhin verrät, sind beide nicht zur selben Zeit errichtet worden. So liegt es mit Blick insbesondere auf die Form der Chorfenster nahe zu vermuten, dass der Chorbereich noch aus spätgotischer Zeit und aus dem frühen 15. Jahrhundert stammen könnte, bevor ein mutmaßlich zeitgleiches Langhaus abgerissen und – wohl im 17. Jahrhundert – durch einen schlichten Nachfolgebau ersetzt worden ist.
Vom ehemaligen Inventar – im Jahr 1854 werden eine Pietà und vier Gemälde benannt, für 1898 der Altar nebst besagter Pietà, ein Eichenstamm mit Nische für eine Madonna, eine hölzerne Statuette des hl. Martin, ein Kruzifix sowie drei Gemälde – haben sich Altar, Pietà und die drei Gemälde erhalten, die heute in anderen Sakralbauten der Stadt Lahnstein sowie im Stadtarchiv aufbewahrt werden. Die heutige Ausstattung entstammt sämtlich der Zeit nach der Neuerrichtung.
b) Der „Nachfolgebau“ der Kapelle von 1905
Das nach dem Abriss von 1903 zwei Jahre später unweit entfernt neu errichtete Gebäude war von Beginn an nicht als Nachbau des Originals konzipiert, da selbst von maßgeblicher konservatorischer Stelle das Langhaus als architektonisch wertlos und entbehrlich angesehen wurde. Die Trümmer dieses Langhauses sollten am neuen Platz lediglich zur Aufschüttung des erhöhten Standortes Verwendung finden.
Aus den Bruchstücken des originalen Chores entstand 1905 ein neuer Chorbereich, der Maße und Form seines Vorgängers großteils übernahm, jedoch den der nördlichen Chorlängswand vorgesetzten Stützpfeiler entfallen ließ. Um den torsoartigen Eindruck des Gebäudes zu mildern, wurde westlich eine frei erfundene schmale „Vorhalle“ von identischer Breite mit grotesk überhöhten Spitzbogenöffnungen angefügt. Das dadurch einheitliche und zwischen Chorbereich und „Vorhalle“ nicht sichtbar unterscheidende Dach trägt – statt wie ehemals über der Mitte des Langhauses – über dem Chor ein verkleinertes Aufsatztürmchen für ein Glöckchen.
Somit ist 1905 ein Neubau entstanden, der nur sporadisch an den originalen Kapellenbau erinnert. Angesichts der zahlreichen, durchaus schwerwiegenden, ja entstellenden Veränderungen darf der kleine, komplett unverputzte Sakralbau in ganz ähnlicher Weise wie der Königsstuhl über Rhens lediglich als Reminiszenz an seinen Vorgänger betrachtet werden – genau und wörtlich genommen eben als ein Denkmal.
R[obert] Bodewig, Die Wenzelskapelle bei Oberlahnstein, in: Mitteilungen des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung 12, 1908/1909, S. 4-11 u. 42-47.
Alexander Thon, Die Liebfrauenkapelle („Wenzelkapelle“) bei Oberlahnstein und ihre symbolische Bedeutung für die deutsche Verfassungsgeschichte (in Vorb.), in: Rhens, der Königsstuhl und die Kaiser Ruprecht Bruderschaft. Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum der Kaiser Ruprecht Bruderschaft, erscheint voraussichtlich 2027.
Der wiederaufgebaute Rest der alten Liebfrauenkapelle befindet sich unmittelbar vor dem Zugang zum Betriebsgelände der Victoria Heil- und Mineralbrunnen GmbH Lahnstein (Max-Schwarz-Straße 1, 56112 Lahnstein).
Sie erreichen die Kapelle über die am Rhein entlang von Braubach über Lahnstein nach Koblenz führende Bundesstraße 42.
Aus nördlicher Richtung kommend, verlassen Sie die Bundesstraße 42 nach links über die Ausfahrt „Industriegebiet (Lahnstein-)Süd (200 m nach der Ausfahrt „Braubach Nord“ und unmittelbar nach der Brücke über die Landesstraße 335!). Der sich anschließenden Max-Schwarz-Straße folgen Sie für 1,5 km, bis diese nach rechts abknickt und in die Straße „Am Rheinquartier“ übergeht. Dort fahren Sie nicht nach rechts, sondern halten sich geradeaus und erreichen nach 50 m auf der linken Seite die Kapelle.
Von Süden über die Bundesstraße 42 anfahrend, benützen Sie rechts die Ausfahrt „Industriegebiet Lahnstein-Süd“ (unmittelbar vor der Brücke über die Landesstraße 335 und 200 m vor der Ausfahrt „Braubach Nord!). Der sich anschließenden Max-Schwarz-Straße folgen Sie für 1,5 km, bis diese nach rechts abknickt und in die Straße „Am Rheinquartier“ übergeht. Dort fahren Sie nicht nach rechts, sondern halten sich geradeaus und erreichen nach 50 m auf der linken Seite die Kapelle.
Parkmöglichkeiten sind in der näheren Umgebung vorhanden. Das Grundstück, auf dem sich die Kapelle befindet, ist frei zugänglich. Aus der offenen „Vorhalle“ ist es möglich, durch ein Eisengitter einen Blick in den Chorinnenraum zu werfen.